China ist für vieles bekannt: für seine freundliche Bevölkerung, für die Menschenmassen, die sich friedlich durch die Straßen schlängeln und für gutes Essen. Leider gehören aber auch starker Verkehr, Umweltbelastung, Luftverschmutzung und Smog zu den Dingen, die man unweigerlich mit Chinas Großstädten in Verbindung bringt.
Weil das asiatische Land unter der enormen Verkehrsbelastung und den Folgen für Umwelt und Gesundheit immer wieder ins Ächzen gerät, wurde vor einiger Zeit nach alternativen Transportwegen gesucht. Eine Lösung schien gefunden, geriet aber außer Kontrolle. Das Ergebnis: China wurde von eigenartigen „Feldern“ durchzogen.
Was es mit diesen Konstrukten auf sich hat, erklärt dieser Artikel.
1. Bike Sharing: Eine gar nicht so neue Idee
Seit den 1970er Jahren gehört das Fahrrad zu den beliebtesten Transportmitteln Chinas. Sie sind günstig zu haben, verursachen keine oder nur geringe Folgekosten, sie sind flink und wendig in überfüllten Straßen und sie lassen sich ohne Probleme überall abstellen oder auch mit ins Haus nehmen.
In den letzten Jahren bieten nicht nur in China, sondern überall auf der Welt immer mehr Bike Sharing Unternehmen ihre Dienstleistungen an. Bei diesen Fahrradverleihsystemen sind die Räder für jedermann öffentlich und leicht nach Bedarf zugänglich und können gegen eine geringe Gebühr genutzt werden. So wird die Fortbewegung durch den Stadtverkehr noch flexibler und kostengünstiger.
2. Bunte „Felder“ in China?
Die Bilder muten fremdartig an, wie aus einer anderen Welt: Sie zeigen wunderliche, in bunten Flächen angeordnete Gebilde, die sich durch ganz China ziehen.
Der Fotograf Mathias Guillin entdeckte vor einiger Zeit diese farbigen und eigenartigen Konstruktionen und musste direkt seine Kamera zücken, um zu dokumentieren, was er vorfand. Die bunten „Felder“, die er dabei ablichtete, kann man überall in ganz China bestaunen. Betrachter von Bildern, auf denen sie in ihrem ganzen Umfang zu sehen sind, verbleiben meist mit großen Fragezeichen zurück. Denn man kann sich kaum vorstellen, warum diese farbigen Areale überhaupt existieren und worin ihr Zweck bestehen könnte.
3. Alternativen zum Auto?
Für viele Menschen, die außerhalb einer Großstadt leben, ist das eigene Auto das wichtigste Transportmittel. Ein Leben ohne eigenen Wagen ist für viele gar nicht vorstellbar.
Wer allerdings in einer Großstadt lebt, für den ist ein eigenes Auto eher lästig. Es ist fast unmöglich, einen Parkplatz zu finden und falls man eine Möglichkeit gefunden hat, zahlt man horrende Parkgebühren oder muss bis zum Ziel noch einen weiten Weg zu Fuß zurücklegen. Hektisches Verkehrstreiben und endlose Staus in den Straßen rauben den letzten Nerv.
Öffentliche Verkehrsmittel sind dabei die Alternative, können allerdings unzuverlässig sein. Bike Sharing sollte eine echte Alternative sein.
4. Stau, Stau, Stau überall!
Nach den Restriktionen für den Fahrradverkehr veränderte sich die Situation in Chinas Städten rasch. Das Verkehrsaufkommen erreichte seinen Höhepunkt und wie mit einem Paukenschlag explodierte der Autoverkehr in den Straßen.
Vor allem in den großen Metropolen wie Shanghai und Peking verschlechterte sich die Situation extrem und der immer weiter zunehmende Verkehr wurde zu einer echten Plage.
Doch nicht nur die Beschlüsse der Regierung über die Einschränkungen des Radverkehrs erhöhten das Verkehrsaufkommen so dramatisch. Es kam auch zu einem unglücklichen Zwischenfall, der dafür sorgte, dass immer weniger Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel nutzten. Es passierte etwas, das wohl niemand hat vorhersehen können.
5. „Für Radfahrer verboten!“ – Restriktionen kommen
Die 1990er Jahre waren ein schlechtes Jahrzehnt für alle, die ihr Geld mit dem Verleih von Fahrrädern in China verdienten. Die Autoindustrie schwächelte und erfuhr daher Unterstützung durch die Regierung. So wurde eine Reihe von Beschlüssen verabschiedet, um den Radverkehr zu regulieren und die Aufmerksamkeit wieder auf den PKW und den Nahverkehr als Haupttransportmittel zu lenken.
Die Strategie ging auf. Die Bevölkerung nutzte wieder mehr den eigenen PKW und auch die öffentlichen Verkehrsmittel. Schon bald, nämlich in den frühen 2000er Jahren, war das Fahrrad als beliebtes Fortbewegungsmittel abgelöst und der starke Verkehr in den Straßen China nahm wieder rasant zu.
6. Das Virus kommt, die Angst geht um
Als das SARS-Virus ausbrach, wollte die chinesische Bevölkerung die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr nutzen. Die Angst vor einer Ansteckung war einfach zu groß.
Die chinesischen Metropolen sind sehr bevölkerungsreich. Wohl jeder hat schon einmal Bilder gesehen, auf denen sich Menschenmassen durch die Straßen drängen und sich in überfüllte Bahnen quetschen.
Als SARS ausbrach, betrachteten die Menschen die überfüllten Bahnen wie eine Art Brutstätte für Bakterien und Viren und wollte sie nicht mehr nutzen. Deshalb blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich im eigenen PKW durch volle Straßen zu zwängen. Doch dann kam ein kluger Geschäftsmann auf eine nahezu geniale Idee.
7. Ofo
An einer chinesischen Universität wurde ein kleines Programm gestartet. Es ging um ein Fahrradverleihsystem, ähnlich den Systemen, die schon einige Jahre zuvor erfolgreich waren. Schon bald fand diese Idee seinen Weg über die Tore der Universität hinaus und das Unternehmen Ofo wurde gegründet.
Nachdem die Fahrradindustrie in den 1990er Jahren so gelitten hatte, breitete sich nun die Idee des Bike Sharings erneut aus und schon bald sah man überall in den Straßen Shanghais die Fahrräder der Firma Ofo.
Die Idee fand Anhänger und Nachahmer und schon bald öffneten ähnliche Unternehmen, wie etwa Mobike, ihr Tore. Die Fahrräder eroberten China erneut.
8. Gute alte Zeit!
Das Fahrrad zu nutzen, rief bei vielen Menschen die Erinnerungen an eine Zeit hervor, in denen alles ein wenig einfacher war. Nostalgie kam auf.
Die Fahrräder brachten so viele Vorteile mit sich, dass jeder sie haben wollte. Sie konnten flink, wendig und bequem in den vollen Straßen genutzt werden und benötigten kaum Platz. So konnten die Menschen bequem von A nach B kommen und ihr Rad am Zielort ohne große Probleme einfach irgendwo abstellen.
Außerdem konnte sich die Fahrradnutzung ein jeder leisten. Die Räder konnten bei den Fahrradverleihern gegen eine kleine Kaution und eine geringe Gebühr ganz einfach ausgeliehen werden.
9. Bike Sharing Boom
Der Fahrradtrend hielt an. Immer mehr und mehr Menschen bewegten sich mit dem Rad fort. Die Masse der Fahrräder, die man in den Straßen zu sehen bekam, war schon beeindruckend. Die Nachfrage blieb hoch und stieg sogar immer weiter an.
Den Unternehmen, die Fahrräder verliehen, blieb das nicht verborgen. Begeistert angesichts der hohen Nachfrage, verdoppelten die Anbieter sogar noch ihre Zahl an Fahrrädern und überschwemmten die Straßen mit Leihrädern. China war doch eigentlich schon immer ein Land, das Fahrräder liebt, so wurde gesagt. Schließlich hatte das Land ja schon einmal einen Fahrradboom erlebt. Da konnte doch eigentlich gar nichts schiefgehen.
10. Gefährliche Zeiten für Fußgänger
Zwar hielt der Trend an und die Menschen nutzten mit wachsender Begeisterung das Fahrrad als Hauptfortbewegungsmittel. Allerdings konnte das ursprüngliche Ziel nicht erreicht werden. Eigentlich sollte die Zahl der Autos reduziert werden, indem die Menschen statt ihres PKW das Fahrrad benutzen. Die Zahl der Autos auf den Straßen blieb aber unverändert. Nur kamen jetzt noch die hohe Zahl der Fahrräder zum Straßenverkehr hinzu.
So sah sich China nun mit einem neuen Problem konfrontiert: Aufgrund der vielen Autos auf den Straßen mussten die Radfahrer auf die Gehwege ausweichen. Das führte natürlich zu ganz neuen Problemen und großer Frustration bei den Fußgängern.
11. „Für Radfahrer verboten!“ – schon wieder Einschränkungen?
Chinas ohnehin schon hohe Verkehrsaufkommen explodierte und wurde für Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger gleichermaßen und zunehmend eine Qual. Denn nun zwängten sich nicht nur unzählige Autos und zahlreiche Fußgänger durch die vollen Straßen, sondern auch noch eine riesige Zahl an Fahrrädern.
Die Verantwortlichen nahmen sich dem Problem an. Allerdings entschieden sie dabei zulasten der Radfahrer. Denn es erschienen immer mehr Verkehrsschilder in den Straßen, die auf neue Regelungen des Radverkehrs aufmerksam machten. So gab es ganze Gebiete, in denen die Nutzung des Fahrrads untersagt wurde. Das Radfahren machte also keinen Spaß mehr und wurde zu einer komplizierten und nervenaufreibenden Sache.
12. Bye bye Bike!
Das Fahrrad hatte nun erneut ausgedient. Die Bevölkerung wollte es nicht mehr nutzen, weil es unmöglich war, sich ohne Einschränkungen und Verbote fortzubewegen. Gerade für Pendler, die morgens ihren Arbeitsplatz erreichen wollten, wurde das Fahrrad unattraktiv. Die Radverleiher blieben auf ihren abertausenden von Fahrrädern sitzen.
Aber wohin nun mit der Masse ungenutzter Fahrräder? Man fand keine Lösung. Also blieben die Fahrräder einfach auf den Straßen stehen und liegen. Sie stapelten sich am Wegesrand und bildeten absurde Türme und Wände. Die einmal so beliebten Fahrrädern fristeten fortan ihr Dasein als hässliche Haufen auf den Straßen, abseits der Gehwege und an Kreuzungen.
13. Der Untergang des Bike Sharing
Für die vielen Anbieter des Bike Sharing und auch Investoren, die mit dieser Branche zusammenhingen, war der Zerfall der Fahrradverleihsysteme ein absolutes Desaster, welches unzählige Insolvenzen und gescheiterte Existenzen mit sich brachte.
Die Unternehmen hatten viel investiert, um an dem Wohlstand rund um den Hype des Bike Sharings teilhaben zu können. Schließlich schienen die Möglichkeiten unbegrenzt. Doch nun fehlten mit einem Mal Einnahmen und Gewinne. Die unzähligen Firmen rund um das Bike Sharing gingen sang- und klanglos unter. Niemand hatte nach der Begeisterungswelle rund um das Radfahren damit rechnen können und die groß angelegten Produktionspläne konnten nicht mehr eingehalten werden.
14. Mauern, Türme, Berge
Nun gab es ein ganz neues Problem, dem es galt, Herr zu werden. Die vielen Radfahrer waren zwar verschwunden und die Gehwege waren wieder sicher für die Fußgänger. Die Autofahrer brauchten sich auch keine Gedanken mehr darüber machen, einen Radfahrer zu übersehen und womöglich anzufahren. Im Straßenverkehr kehrte also wieder Normalität ein.
Allerdings verunstalteten nun die riesigen Haufen ungenutzter Fahrräder, die einfach achtlos in den Straßen aufgetürmt wurden, die ganze Stadt. Die Fußgänger waren erneut am meisten betroffen, denn sie mussten sich nun nicht selten durch einen Hindernisparcours aus Fahrrädern bewegen. Allerdings gab es schon eine Lösung für das Problem.
15. Eine gleichmäßige Verteilung muss her
Um dem Problem Herr zu werden und die Flut an Fahrrädern aus den Straßen Chinas zu verbannen, stellten die Verantwortlichen zusätzliches Personal ein. Dieses fuhr mit Lastwagen durch die Straßen Chinas, sammelte die Fahrräder ein und verteilte die Masse der Fahrräder gleichmäßig über das gesamte Stadtgebiet. Sie türmten die Fahrräder außerdem säuberlich an den Wegesrändern auf. So konnten die einzelnen Fahrradhaufen verkleinert werden. Außerdem waren sie zumindest für die Fußgänger aus dem Weg geschafft.
Allerdings blieb dabei sehr viel Müll zurück, nämlich abhandengekommene Fahrradteile wie etwa Speichen, Lenker und sonstige Überbleibsel. Es musste also noch eine bessere Lösung gefunden werden.
16. Von oben gesehen
Der Fotograf Mathias Guillin entdeckte vor einiger Zeit die Areale, in denen die ehemaligen Leihfahrräder gesammelt werden. Er war fasziniert davon, wie die Räder als stumme Zeugen der Zeit riesige und farbenfrohe „Felder“ bilden. Guillin fackelte nicht lange und benutzte seine Drohne dazu, die Gebilde einmal von oben zu betrachten und abzulichten.
Die bunten Reihen der Fahrräder können als Symbol für das Scheitern einer ganzen Branche gesehen werden. Guillin hat diese traurige Symbolik bildlich eingefangen und mit seinen großartigen Fotografien daraus etwas Schönes gemacht. Seine Bilder zeigen eindrücklich das ganze Ausmaß der Sache. Zu sehen sind riesige Areale bunter Fahrräder.
17. Zentrale Sammelstellen werden eingerichtet
Es musste eine Lösung her, bei der endgültig alle Fahrräder aus den Straßen verschwanden. So kam man auf die Idee, die Fahrräder nicht bloß zu verteilen, sondern alle Räder zu zentralen, stillgelegten und abgelegenen Orten zu bringen und sie dort aufzutürmen.
So wurden also hunderttausende Fahrräder gesammelt und zentral auf abgelegene Gebiete in ganz China verteilt. Sie fristeten dort fortan ein trostloses Dasein, blockierten, fein säuberlich aneinandergereiht und farblich sortiert, tausende Quadratkilometer Land und verrotteten traurig vor sich hin. Die einst so beliebten und allseits geliebten Fahrräder hatten plötzlich keinerlei Zweck mehr und bildeten nur noch eine Art bizarre Blockade.
18. Gegensätze ziehen sich an
Guillins Fotografien sind deshalb so reizvoll, weil sie Gegensätze fotografisch miteinander verbinden.
Auf der einen Seite sind die Reihen und Berge aus ungenutzten Fahrrädern ein nahezu herzzerreißendes Bild. Denn sie zeugen nicht nur vom Versagen der damaligen Verantwortlichen Chinas und vom Untergang einer ganzen Branche des Transportzweiges. Sondern es handelt sich dabei auch um eine nahezu unvorstellbare Menge verschwendeter und wertvoller Ressourcen.
Auf der anderen Seite sind die außergewöhnlichen Muster, welche die Fahrräder nun in Reihen und Haufen bilden, und auch die leuchtenden Farben auf den Bildern nahezu ein Augenschmaus! Gerade dieser Gegensatz macht Guillins Bilder zu etwas ganz Besonderem.
19. Der Zweck der Fahrräder in Zukunft?
Chinas Berge und Mauern aus Fahrrädern, die auf abgeschotteten Arealen langsam vor sich hin verrotten, sind Zeichen für den gescheiterten Versuch, Chinas Liebe zum Fahrrad wiederzubeleben. Aus dieser Liebe sollte eine ganz neue und dauerhafte Transportbranche geschaffen werden, die dem Auto und dem Personennahverkehr den Rang abläuft.
Natürlich gehören die Fahrräder noch den Unternehmen, die sie einst verliehen haben. Die Eigentümer denken nach wie vor darüber nach, was man mit ihnen tun soll. So lange bleiben die Fahrräder, wo sie sind, bleiben stumm, verfallen und zeugen von einer vergangenen Zeit und dem Versuch, ein völlig ausgereiztes Konzept immer weiter anzuheizen.
20. Vom Krempel zur Kunst
Die Massen an völlig zwecklosen Fahrrädern, die verlassen vor sich hin verrotten, sind eigentlich alles andere als schön. Im Grunde sind es Mülldeponien, die in abgelegenen Gebieten eingerichtet wurden. Doch Guillins Fotos lassen sie wie ein gemeinschaftliches Kunstprojekt erscheinen.
Von oben gesehen ergeben die Felder aus bunten und teilweise sogar fein säuberlich aufgereihten Fahrrädern schon fast eine Art Gemälde. Die Reihen und Haufen aus Fahrrädern ergeben ein außergewöhnliches Muster. Die Farben der Fahrräder heben sich eindrucksvoll von ihrem Untergrund ab. Durch die Kameralinse erscheint dieses eigentliche Bild des Versagens wie ein Kunstgebilde und dürfte wohl bei niemandem seine Wirkung verfehlen.
21. Bildinterpretationen
Wenn man Guillins Bilder interpretieren mag, so drängen sich einige Assoziationen geradezu auf. Betrachtet man einmal ein Foto mit einem Haufen aus Fahrrädern, so erscheinen die Räder dann wie eine Art lustig und bunt eingefärbte Soldatentruppe die schon heimlich plant, ein Gebiet zu überfallen und einzunehmen.
Es ist schade, dass die meisten Fahrräder nicht mehr zu gebrauchen sind. Denn sie sind durch das technische System, mit dem sie ausgestattet sind, abgeriegelt und können nicht benutzt werden. Was für eine Schande und unvorstellbare Verschwendung von Rohstoffen! Zumindest erfüllen sie noch als schönes und gleichzeitig trauriges Kunstobjekt auf Guillins Bildern einen Zweck.